Alle Inländer sind Hochverräter
Jonathan Spence schildert ein Musterstück chinesischer Geschichte

Dieses Buch liest sich wie ein Roman, und so hatte der Verlag es auch angekündigt: unter den literarischen Neuerscheinungen zwischen Mosebach und Kundera und mit dem Verweis, der Autor Jonathan Spence habe für seinen Bericht alte Quellen ausgewertet und auf dieser Basis einen "Politkrimi" erzählt. Jeder unschuldige Interessent mußte denken, die Welle fiktiver Kriminalfälle aus früheren Zeiten sei endlich auch in der chinesischen Qing-Dynastie angelangt. Und mit dem braven General Yue Zhongqui hält "Verräterische Bücher" auch einen vielversprechenden Ermittler parat, der grundsympathisch daherkommt und doch vor Folter nicht zurückschreckt. Da ist einiges an aktueller Anbindung möglich. Dazu ist das Buch im Präsens geschrieben und rasend spannend. Doch von allem, was man ansonsten mit einem Krimi verbindet, ist Jonathan Spences Buch meilenweit entfernt.

Das beginnt damit, daß von Anfang an klar ist, wer der Täter war. Schon das Vorwort deckt es auf: Der geheimnsivolle Brief, der am 30. Oktober 1728, im sechsten Jahr der Regierung des Yongzheng-Kaisers, an dessen Generalgouverneur in den beiden Provinzen Shaanxi und Gansu, jenen besagten General Yue, ausgehändigt wird, stammt von Zeng Jing, einem unbedeutenden Gelehrten in der zentralchinesischen Provinz Hunan. Da sich das ganze Buch um den Brief dreht, um die Voraussetzungen seines Entstehens, um dessen Inhalt natürlich und um die Folgen, die seine Zustellung für das riesige Reich hat, hätte ein Kriminalroman wohlweislich damit gewartet, das Pseudonym seines Verfassers, der mit "Sommerstille" unterschrieb, zu früh zu lüften.

Doch Spence will nicht ein Rätsel konstruieren, wo es gar keines gibt, denn der gewiefte Ermittler Yue entlockt dem Briefboten schon nach wenigen Tagen - und zwar mehr mit Tricks als mit Gewalt - den Namen seines Auftraggebers. Am 4. Dezember 1728 wird Zeng festgenommen, und nur wenig mehr als ein Jahr später ist sein Name reichsweit in aller Munde und mehr noch in aller Ohren - ungewöhnlicher Ruhm für einen, der des Hochverrats beschuldigt worden ist, weil er in seinem Brief schwere Vorwürfe gegen den Yong- zheng-Kaiser erhoben hat.

Um diese erstaunliche Wendung zugunsten Zengs zu erklären, stellt Spence, seines Zeichens Sinologe in Yale, etwas anderes als den Kriminalfall um die Entstehung des Briefes in den Mittelpunkt seiner Darstellung. Was ihn interessiert, ist die Reaktion des von einem Untertanen beschuldigten Kaisers: Denn am 4. April 1730 beginnt in Peking der Druck eines Buchs, das die gesamte Affäre um Zeng und Yue und den Herrscher schildert, beruhend auf Aussagen des Verhafteten, Schreiben des Generals und kaiserlichen Edikten. Selbst der Inhalt des inkriminierten Briefs, der natürlich nicht veröffentlicht wird, kann aus diesen Texten leicht rekonstruiert werden. Der Titel der Dokumentensammlung lautet "Bericht, wie wahre Tugend zum Erwachen aus der Verblendung führt", sie umfaßt mehr als 250 Doppelseiten und wird auf Geheiß des Kaisers in ganz China verteilt, damit daraus jede Woche regelmäßig rezitiert werde. Hunderttausende von Exemplaren werden im ganzen Reich verteilt. Die Teilnahme an den Lesungen ist für die Chinesen Pflicht.

Spätestens bei dieser Schilderung vergißt der Leser den historischen Rahmen und liest "Verräterische Bücher" als Porträt eines zeitlosen China, in dem Umerziehung, Verrat, Propaganda, Begünstigung und Folter traurige Konstanten einer immens reichen Geschichte sind. Der Yongzheng-Kaiser nahm Maos Politik der kollektiven Umerziehung um mehr als zwei Jahrhunderte vorweg, agierte gegenüber Zeng Jing aber weitaus großmütiger, als es sein kommunistischer Nachfolger wohl getan hätte. Zeng war wegen Verrat angezeigt worden, was normalerweise seine Hinrichtung durch Vierteilung und die Auslöschung seiner männlichen sowie die Versklavung seiner weiblichen Angehörigen und der Kinder zur Folge gehabt hätte, doch der Yongzheng-Kaiser begnadigte den Delinquenten nicht nur, sondern gab ihm auch noch einen Posten in der Verwaltung und ein reiches Geldgeschenk.

Der Grund dafür war indes machiavellistisch. Yongzheng hatte als dritter Herrscher seiner Dynastie die Erfahrung gemacht, daß der Dünkel der Han-Chinesen als Stammvolk des Kaiserreichs gegenüber den regierenden Mandschu nicht auszurotten war. Deshalb gab er sich so viel Mühe mit der Widerlegung der von Zeng gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Spence erzählt, ausgehend von den kaiserlichen Rechtfertigungen, viel mehr als den Fall Zeng; er liefert eine Geschichte der Qing-Dynastie mit all ihren Intrigen und Kulturkämpfen, eine Soziologie des intellektuellen Chinas im frühen achtzehnten Jahrhundert - und ein Lehrstück über die Ohnmacht der Mächtigen gegenüber dem Gerücht.

Doch zunächst entwickelte sich alles nach Erwartung von Yongzheng. Als der inhaftierte Zeng auf die Linie des Kaisers einschwenkt, sieht dieser die Möglichkeit zu einem exemplarischen Gnadenakt: Durch seine Weisheit hat er einen chinesischen Kritiker seiner Herrschaft aus dessen selbstverschuldeter geistiger Unmündigkeit befreit. Das entspricht der chinesischen Tradition der Belehrung, und deshalb verspricht sich der Kaiser von der Publikation der entsprechenden Schriften, die im Widerruf Zengs gipfeln, eine durchschlagende Wirkung.

Sie bleibt aus. Vielmehr protestiert die höhere Beamtenschaft in einem seltenen Akt des Ungehorsams: Ein kollektiver Brief geht an den Kaiser, in dem die ranghohen Unterzeichner die übliche Todesstrafe fordern. Zumal es neben Zeng einen zweiten Hauptbeschuldigten gibt, den die ganze Härte des Gesetzes treffen soll: Lü Liuliang. Er hat nicht die Chance zu widerrufen, denn Lü, ein höchst angesehener Konfuzius-Kommentator, ist längst tot. Doch auf seine Schriften, jene "verräterischen Schriften", die Spence zum Titel des Buches bewogen haben, hat Zeng sich in seinem Brief berufen, und als Yongzheng anordnen läßt, das Werk Lüs auf rebellische Passagen zu untersuchen, bringen willfährige Interpreten reiche Ernte ein. Plötzlich ist Lü als jemand enttarnt, der zeit seines Lebens gegen die Machtübernahme der Mandschu gewettert hat. Konsequenterweise gilt auch er als Hochverräter.

Da er sich der gerechten Strafe durch sein um Jahrzehnte verfrühtes Dahinscheiden entzogen hat, ergeht seitens des Kaisers folgendes Urteil: Den Leichnam Lüs solle man exhumieren und köpfen, damit er danach zur Schau gestellt werden könne. Gleiches möge mit seinem verstorbenen ältesten Sohn geschehen. Der bereits neunundsechzigjährige jüngste Sohn soll als einziger überlebender direkter Nachfahre enthauptet werden. Diejenigen Enkel Lüs, die älter als sechzehn sind, werden zu Sklavenarbeit in der Verbannung begnadigt, der Besitz der Familie wird zugunsten des Staates verkauft.

Nun hat Lü eine immens große Leserschaft - gerade unter den Gelehrten. Deshalb stößt die Begünstigung Zengs auf solchen Widerstand. Der Yongzheng-Kaiser aber bleibt seiner Linie treu. Zumal sich plötzlich die Fälle von Kritik im Reich häufen, was ihn nur in seiner Ansicht bestätigt, daß nicht der bedeutungslose Zeng, sondern der allgemein hochgeschätzte Lü Ursache dieser bedenklichen Tendenz zur Insubordination sein müsse.

Der Herrscher stirbt am 8. Oktober 1735, bis zuletzt läßt er sich Berichte zu verdächtigen Aktivitäten zuleiten. Überall sieht er Bestätigung für seinen Zorn auf Lü. Und der Zorn von Yongzheng konnte hartnäckig sein. Er selbst war der vierte Sohn seines kaiserlichen Vorgängers gewesen und hatte zwei seiner Brüder, den achten und neunten, nach der eigenen Thronbesteigung inhaftieren lassen, weil er in ihnen Intriganten vermutete. Beide starben unter den unmenschlichen Haftbedingungen, und zwei weitere der insgesamt zwölf Brüder von Yongzheng kamen nur durch glückliche Fügung mit dem Leben davon.

Nun besteigt wiederum ein vierter Sohn den Thron in der Halle der Höchsten Harmonie. Der Quianlong-Kaiser wird eine der längsten Herrschaften aller Dynastien erleben - sechzig Jahre -, und er wird hochberühmt werden als ein Herrscher, der in seiner Regierungszeit mehrerere tausend Gedichte verfaßt, die auf alle möglichen und unmöglichen Gegenstände in der Schatzkammer geschrieben werden. Dieser Schöngeist beginnt sofort damit, die umstrittenen Urteile seines Vaters zu überprüfen. Zunächst begnadigt er die Angehörigen seiner inhaftierten Onkel, dann begibt er sich an die Revision des Falls Zeng.

Und hier gilt für ihn: Nur keine Sentimentalitäten! Das Urteil des Vaters ist ihm Ausweis wahrhaft kaiserlicher Milde, aber ein Verstoß gegen das Gerchtigkeitsempfinden des Volkes. Zeng wird doch noch durch Zerstückelung hingerichtet, seine Familie trifft das für Angehörige von Verrätern vorgesehene Schicksal. Die seit mehr als fünf Jahren laufenden öffentlichen Lesungen aus dem "Bericht, wie wahre Tugend zum Erwachen aus der Verblendung führt" werden eingestellt, alle Bücher eingesammelt. Nun gelten nicht mehr nur Lüs Schriften, sondern auch die des Yongzheng-Kaisers als verräterisch: Sie sind Belege eines moralisch lobenswerten, aber politisch falschen Herrscherurteils.

Einige entgehen natürlich der Vernichtung, wie auch einzelne Exemplare von Lüs Schriften auf uns gekommen sind. Aus diesen Nachrichten eines untergegangenen und doch so aktuellen Reiches hat Jonathan Spence ein verräterisches Buch für unsere Tage geschrieben: Es gibt alles preis, was Staatsmacht gemeinhin im dunkeln halten will.  Andreas Platthaus

Jonathan Spence: "Verräterische Bücher". Eine Verschwörung im alten China. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. Carl Hanser Verlag, München 2005.

335 S., geb., 24,90 [Euro].


Text: F.A.Z., 02.01.2006, Nr. 1 / Seite 37
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